09.02.2023: Jagd nach Kanonenfutter (Tageszeitung junge Welt)

2023-02-28 13:42:42 By : Ms. Suki Chen

Mehrere Kleinbusse fahren plötzlich auf dem Marktplatz von Wasilkow im Gebiet Kiew vor. Ukrainische Soldaten springen heraus, einige davon mit Waffen. Sie sperren den Platz ab und beginnen, alle Männer zu ergreifen, die im Alter von 18 bis 60 Jahren scheinen. Zwanzig Männern werden Einberufungsbescheide zum Militär übergeben, vier weitere werden unter ­Schreien und Drohungen auch mit Waffen in den Bus gedrängt. Danach verlassen alle fluchtartig den Marktplatz.

Ähnliche Szenen habe ich in den vergangenen zwei Monaten mehr als einmal auch in anderen Städten gesehen. Die Razzien hören selbst während der Luftangriffe nicht auf. Wer sich weigert, den Vorladungen Folge zu leisten, wird mitunter vom Militär geschlagen und mit unbekanntem Ziel abgeführt.

Wjatscheslaw Asarow, Gründer der Union der Anarchisten der Ukraine (UAU), berichtet in seinem Telegram-Kanal, dass er am 2. Februar Zeuge wurde, wie Arbeiter eines Internetanbieters, die Kabel verlegten, einen Wagen der ukrainischen Armee bemerkten und sich unter ihrem Fahrzeug versteckten. Nachdem er wieder weggefahren war, brachen die Handwerker ihre Arbeit ab und zogen sich zurück. In Odessa benutzt das Militär jetzt Krankenwagen, um sich unauffällig potentiellen Opfern zu nähern und ihnen die Vorladungen auszustellen.

Nach zwei bis drei Wochen Ausbildung werden die Rekruten sofort an die Front geworfen. Soldaten ohne Training, das macht normalerweise keinen Sinn. Doch sie werden, wie es zynisch heißt, als »Antiartillerieradar« eingesetzt – im Feld zurückgelassen, dienen sie dazu, den Standort der gegnerischen Geschütze bestimmen zu können, die sie unter Feuer nehmen.

Die ukrainischen Militärs, die die Einberufungsbescheide aushändigen, werden »Todesboten« genannt. In der Regel handelt es sich bei ihnen um neu Mobilisierte, denen bei der Einberufung ein Aufschub gewährt wird. Falls sie eine Mindestzahl von Vorladungen aushändigen oder dem Melde- und Rekrutierungsbüro eine bestimmte Anzahl Rekruten ausliefern, brauchen sie nicht an die Front.

Eines der Merkmale der massenhaften Einberufungen in der Ukraine ist ihr Klassencharakter. Arbeiter und arme Landbewohner werden zwangsweise an die Front gebracht. Grenzschützer und andere Beamte verlangen für ein Wegschauen bei der Ausreise Bestechungsgelder von bis zu 10.000 US-Dollar, was sich im ärmsten Land Europas nur wenige leisten können. Darüber hinaus sind Mitarbeiter von Organisationen, die von westlichen Gebern finanziert werden, vom Kriegsdienst befreit.

»Trotz der Masseneinberufung in der gesamten Ukraine verzeichnet (…) die ukrainische Armee einen großen Personalmangel. Blickt man auf die hohen Verluste, versteht man, welch düsteres Bild sich ergibt – die ­Rekrutierungskampagne wird also noch verschärft werden«, heißt es auf dem ukrainischen Telegram-Kanal »Media Killer«.

Hinzu kommt die Korruption. Der Preis, der Offizieren oder medizinischem Personal zu zahlen ist, um nicht an die Front zu müssen, liegt bei etwa 5.000 US-Dollar. Je mehr Männer von den Rekrutierern erwischt werden, desto mehr von ihnen sind bereit, das Bestechungsgeld zu zahlen.

Die massenhafte Einberufung hat sogar einen internationalen Skandal ausgelöst. Der ungarische Außenminister Peter Szijjarto sagte am 26. Januar, er habe erschreckende Aufnahmen davon gesehen, wie die Rekrutierer Angehörigen der in Transkarpatien lebenden ungarischen Minderheit unbarmherzig nachstellen. Zwei Tage zuvor hatte die ungarische Nachrichtenseite Pesti Sracok berichtet, dass die ukrainischen Behörden in der Region die größte Rekrutierungskampagne seit Beginn des Konflikts durchführen.

Demnach wurde Transkarpatien von Hunderten ukrainischen Soldaten und Polizisten überschwemmt. »In Mukatschewo zum Beispiel wurde neulich ein ganzer Marktplatz gesperrt, Soldaten und Polizisten kamen, und jeder, der diensttauglich aussah, wurde in einen Bus verladen und abtransportiert«, zitiert Pesti Sracok einen Augenzeugen.

Die Masseneinberufung ist eine Folge der schweren Verluste an der Front und der Strategie des »Kampfes bis zum letzten Ukrainer«. Ende Januar wurden allein in und um Bachmut täglich Hunderte von ukrainischen Soldaten getötet. Und dies ist nur ein umkämpfter Ort an einer Frontlinie, die sich über Hunderte von Kilometern erstreckt.

Seit letztem Jahr gibt es in der ganzen Ukraine Telegram-Kanäle, in denen Bürger mitteilen, wo die Rekrutierer gerade Kontrollen durchführen. Immer wieder wird Männern geraten, nur auf Krücken oder im Rollstuhl das Haus zu verlassen und Untauglichkeit vorzutäuschen, um das Militär nicht auf sich aufmerksam zu machen. Das funktioniert jedoch nicht immer.

Wie ukrainische Medien berichteten, wurde im Januar in Drogobitsch in der Region Lwiw sogar ein behinderter Mann einberufen, der ohne Arme geboren wurde. Das erinnert ein wenig an den verzweifelten »Volkssturm« der Nazis im Frühjahr 1945.

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